- Interviews
Seit zwölf Jahren gemeinsam an der Spitze
AWV-Präsident Werner Schmidt und AWV-Vizepräsident Christoph Verenkotte im Doppelinterview
Erfahren Sie mehr zu den Hintergründen der AWV-Facharbeit und auch zu aktuellen AWV-Projekten in unserem Doppelinterview mit dem AWV-Präsidium
Sie bilden seit inzwischen zwölf Jahren gemeinsam das Präsidium des AWV-Vorstands. Anfang März wurden Sie zum dritten Mal im Rahmen der ersten virtuellen AWV-Mitgliederversammlung im Amt bestätigt. Wie kamen Sie zur AWV? Was hat Sie dazu bewogen, sich ehrenamtlich für die AWV zu engagieren, und was motiviert Sie heute?
Werner Schmidt: Ich komme beruflich aus der Versicherungswirtschaft und war bereits mehrere Jahre für den Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, den GDV e.V., tätig, bevor ich 2002 Mitglied des AWV-Vorstandes wurde. Ich kannte die AWV bis dahin noch nicht. Und trotz des langen Namens – Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung – ist es nicht auf Anhieb selbsterklärend, was die AWV tut und wofür sie steht. In einem persönlichen Gespräch erläuterte mir AWV-Geschäftsführer Dr. Naujokat daher die Arbeit der AWV und deren ganz besondere – wir sprechen ja auch von „einzigartige“ – Rolle: Die AWV versteht sich als neutrale Plattform für den Austausch sektorenübergreifender Verwaltungsthemen und sie wurde – und wird noch immer – sowohl von der Wirtschaft als auch von Verwaltungsseite und zunehmend auch vom Dritten Sektor als neutral und nicht etwa als Lobby wahrgenommen. Dieses Selbstverständnis, eine neutrale Plattform für alle drei Sektoren zu bieten, war und ist grundlegend für die Erfolge der AWV. Diese sind natürlich zugleich auch Resultat des fachlichen Netzwerks von inzwischen mehr als 1.200 ehrenamtlich in der Facharbeit Aktiven, die ihre Expertise aus den verschiedenen Bereichen zusammenbringen, in unterschiedlichen AWV-Gremien kooperieren und nach praxistauglichen Lösungen mit dem besten gemeinsamen Nenner suchen. Das hat mich beeindruckt!
Nachdem ich einige Jahre im AWV-Vorstand aktiv war, wurde ich im März 2010 gemeinsam mit Christoph Verenkotte in das AWV-Präsidium gewählt.
Und so heterogen wie der berufliche Hintergrund innerhalb der AWV-Facharbeit ist, ist er es auch unter den Vorstandsmitgliedern: Hier kommen Menschen aus völlig unterschiedlichen Bereichen an einem Tisch zusammen. Daher war für uns von Anfang an die Art der Zusammenarbeit, vor allem der vertrauensvolle Austausch, zwischen dem Präsidium und dem Vorstand sehr wichtig. Die entstandene Vertrauensbasis bildet die Grundlage für einen konstruktiven Diskurs und das großartige Arbeitsklima im Vorstand, das wir auch unter Pandemiebedingungen aufrechterhalten konnten.
Was mich darüber hinaus motiviert, ist, dass ich einen Teil dazu beitragen darf, dass das Format der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Verwaltung und dem Dritten Sektor in der AWV innerhalb der ehrenamtlichen Facharbeit weiter funktioniert und konkrete Ergebnisse erzielt werden.
Christoph Verenkotte: Die AWV richtet sich in ihrer Arbeit ja gleichermaßen an Wirtschaft und Verwaltung. Diese Doppelung findet sich auch im Präsidium der AWV wieder und hat mittlerweile eine jahrzehntelange Tradition. Ebenfalls eine lange Tradition hat auch das Engagement des Bundesministeriums des Innern (BMI) und seiner nachgeordneten Behörden in der AWV. So waren ab 1991 zwei Staatssekretäre aus dem BMI Vizepräsidenten der AWV, bevor dann mein Vorgänger im Bundesverwaltungsamt (BVA), Dr. Jürgen Hensen, im Jahr 1999 dieses Amt antrat. Seitdem ist der Präsident des BVA auch der ehrenamtliche Vizepräsident der AWV.
Als ich im Jahr 2010 als Vertreter der öffentlichen Verwaltung zum Vizepräsidenten des Vereins gewählt wurde, habe ich mich gefreut, diese Tradition fortführen zu können. Ich muss sagen, dass die Themen der AWV in Richtung Verschlankung von Verwaltungsprozessen, Verwaltungsmodernisierung im umfassenden Sinne und Digitalisierung für mich schon lange eine Herzensangelegenheit waren, die ich wichtig finde. Und sie sind heute noch wichtiger als gestern. In der AWV spielt dabei die Praxisnähe eine große Rolle und das ist besonders wertvoll, wenn man sich mit diesen Themen beschäftigt. Theorielastige Papiere gibt es genug.
Die AWV arbeitete unter Ihrer Leitung an weitreichenden Vereinfachungen von gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien und damit an der Verschlankung administrativer Prozesse mit. Wie würden Sie die während dieses langen Zeitraums erreichten Ergebnisse beurteilen? Welche zählen zu Ihren besonderen „Highlights“?
Christoph Verenkotte: Aktuell ist vor allem die Beteiligung der AWV an den Digitalisierungsprojekten der öffentlichen Verwaltung zu nennen. Mit dem Onlinezugangsgesetz und dem Registermodernisierungsgesetz hat die öffentliche Verwaltung große Modernisierungsprojekte begonnen, die durch eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Wirtschaft erheblich unterstützt werden können.
Mit dem elektronischen Datenaustauschformat eXTra hat die AWV schon vor Jahren die Grundlage für hochautomatisierten Datenaustausch zwischen Wirtschaft und Verwaltung geschaffen, der auch im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung weiterhin seine Bedeutung hat. Weiterhin bietet die AWV offene und effiziente Strukturen für Diskussions- und Optimierungsprozesse rund um die Digitalisierung.
Zu den früheren Projekten ist im Bereich der elektronischen Rechnung vor allem das elektronische Rechnungsformat ZUGFeRD zu nennen, das durch die enge Zusammenarbeit mit Frankreich auch international wirkt.
Ein Highlight, auch mit klarem Mehrwert für die Verwaltungen, sind auch die Arbeitskreise, die sich mit Digitalisierungskompetenzen oder dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) beschäftigen. In diesem Zusammenhang stand auch das sehr erfolgreiche Web-Event zum 95-jährigen Bestehen der AWV unter dem Motto „Facing AI – KI ein Gesicht geben“. Explizit thematisiert wurde im Rahmen des Events auch der Einsatz von KI in der öffentlichen Verwaltung. Das macht deutlich, dass die AWV da ansetzt, wo sich praktische Fragen der Zukunftsgestaltung stellen: Ohne die Förderung von Digitalkompetenz werden wir nicht in die Breite der Verwaltung kommen und man muss sich auch mit dem Einsatz von KI praxisorientiert und umfassend beschäftigen, denn die kundenorientierte Neugestaltung und Automatisierung unserer Verwaltungsabläufe ist erst der erste Schritt in die Zukunft.
Werner Schmidt: Veränderungsprozesse im politischen Umfeld können langwierig sein. Man braucht einen sehr langen Atem. Von den ersten Ideen bis hin zu deren konkreter Umsetzung kann es Monate bis hin zu Jahren dauern. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass man sich beim Bürokratieabbau langsam, aber sicher vorantasten muss, um langfristige und nachhaltige Veränderungen bewirken zu können. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die elektronische Lohnsteuererklärung ELSTER: Zwölf Jahre Arbeit sind der Abschaffung der Papier-Lohnsteuerkarte vorausgegangen...
Ein Highlight meiner bisherigen AWV-Amtszeit war sicher die Begleitung der Einführung des einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums SEPA. Hier hat sich ganz konkret gezeigt, dass die AWV nicht nur seitens des Gesetzgebers und der Ministerien, sondern auch von der Wirtschaft als neutrale Mittlerin wahrgenommen wird, einen guten Treffpunkt für beide Seiten geboten hat und alle Beteiligten dazu beitragen wollten, die Sache gemeinsam voranzubringen und nicht einseitige Interessen zu vertreten.
Zu den aktuell bedeutsamen Themen zählt sicher die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), deren Realisierung konstruktiv von der AWV mit begleitet wird.
Die Facharbeit der AWV lebt vom Engagement und Wissen wie auch von der Praxiserfahrung der ehrenamtlich aktiven Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Verwaltung, dem Dritten Sektor und der Wissenschaft. In hochspezialisierten Themenfeldern ist Fachwissen ein kritischer Faktor für erfolgreiche Ergebnisse. Ist das Ehrenamt hier noch ein aktuelles Konzept?
Werner Schmidt: Ausdrücklich: Ja! In der AWV sind sowohl die Vorstände als auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Facharbeit ehrenamtlich aktiv. Natürlich ist deren Arbeit auch von dem Willen getrieben, Dinge zu verändern und konkrete Ergebnisse zu erzielen. Aber der Grundgedanke hinter der Arbeit der AWV ist, dass ihre Ergebnisse allgemein darstellbar sind. Das mag für den Einzelnen manchmal ein Spagat zwischen eigenen Interessen und Neutralität sein, aber für die AWV ist eben genau die Orientierung an der Sache entscheidend. Und alle Beteiligten sind motiviert, dieses Konstrukt weiter zu nutzen, auszubauen und am Leben zu erhalten. Es macht einfach Spaß! An dieser Stelle muss ich einfach den oft schon bemühten Satz wiederholen: Wenn es die AWV in dieser Form noch nicht gäbe – wir müssten sie erfinden!
Christoph Verenkotte: Da stimme ich Werner Schmidt voll und ganz zu! Ehrenamtliches Engagement kostet Zeit und Mühe, aber die Beteiligten haben auch etwas davon. Auch das BVA profitiert vom ehrenamtlichen AWV-Engagement: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BVA engagieren sich in der Facharbeit der AWV und ziehen einen Mehrwert etwa aus den neuen Erkenntnissen, die sie im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Verwaltungen, aber auch aus der freien Wirtschaft oder der Wissenschaft gewinnen. Das ist eine Win-win-Situation für alle und ich freue mich, dass viele Verantwortungsträger dies genauso sehen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Arbeit in den Arbeitsgruppen der AWV freistellen.
Vor der Corona-Pandemie galten die Digitalisierung, der demografische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel als zentrale Herausforderungen für den Standort Deutschland, die sich als Themen in den verschiedensten Gremien der AWV-Facharbeit wiederfanden. Haben sich die Themen und Ziele der AWV-Facharbeit in Deutschland durch Corona aus Ihrer Sicht verändert?
Werner Schmidt: Wie überall auf der Welt hat sich auch die Arbeitsweise der AWV durch die Corona-Pandemie geändert – aber nicht zu Lasten der Inhalte. Der AWV ist es auch in Pandemiezeiten gelungen, ihre Themen weiter nach vorne zu bringen. Coronabedingte Themen sind noch dazugekommen: Beispielsweise sind aus unserer Facharbeit wichtige Hinweise zu den Themen Kurzarbeitergeld oder Corona-Hilfen gekommen.
Durch die Corona-Krise hat der Bürokratieabbau in Richtung Digitalisierung zusätzlichen Schub erhalten. Die AWV, die sich ja bereits 1926 den Bürokratieabbau auf die Fahne geschrieben hat, nutzt diesen frischen Rückenwind, um an konkreten Themen weiterzuarbeiten.
Christoph Verenkotte: Die AWV war auch deshalb fachlich und operativ den Herausforderungen durch Corona gewachsen, weil der Vorstand seit 2018 eine Digitalisierungsstrategie für die Facharbeit und die interne Arbeit der Geschäftsstelle entwickelt hat. Das hat sich in Coronazeiten sehr bewährt: Es gab nahezu keine qualitativen oder terminlichen Verluste durch Corona. Und das ist auch ein Verdienst der engagierten Geschäftsführung der AWV und ihrer motivierten Referentinnen und Referenten. Da kann man nur danke sagen.
Aber was auch sicher ist: Gerade die ehrenamtliche Facharbeit lebt auch vom vertrauensvollen persönlichen Umgang miteinander, und da können wir nur hoffen, dass das bald wieder geht.
Wenn ich an mein eigenes Haus denke, kann ich sagen, dass die Situation für die öffentliche Verwaltung eine besondere Herausforderung war. Wir haben einfach gemerkt, dass wir in der öffentlichen Verwaltung in Deutschland noch nicht so weit sind mit der Digitalisierung, wie es in einer solchen Situation hilfreich gewesen wäre. Nicht einmal die elektronische Akte war flächendeckend verfügbar. Jahrelang hat man schlicht und einfach zu wenig investiert. Ob man die Lektion für die Zukunft gelernt hat, wird man sehen.
Auch die Führungskräfte mussten dazu lernen. Führen auf Distanz war für viele etwas Neues, aber auch eine positive Erfahrung: Es geht, auch wenn der Aufwand größer ist. Ziele vereinbaren, Vertrauenskultur und verstärkte und sehr regelmäßige Kommunikation sind enorm wichtig dabei. Letztlich hat es den Bewusstseinswandel gefördert und die kleine Erkenntnis, dass manches auch ohne Dienstreise geht, ist ja nicht negativ.
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung trägt den Titel „Mehr Fortschritt wagen“. Auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat ehrgeizige Pläne. Laut Bundeswirtschaftsminister Habeck soll die „Transformation“ Deutschlands zu einer „klimaneutralen Volkswirtschaft“ im Vordergrund stehen. Wie kann die AWV als neutrale Plattform zwischen Wirtschaft, Verwaltung und Drittem Sektor hier unterstützen?
Werner Schmidt: Aktuell hat der Vorstand der AWV mit Unterstützung der Facharbeit ein Positionspapier erarbeitet, das ganz konkrete Vorschläge zum Koalitionsvertrag umfasst. Wir bringen den notwendigen Elan mit, die Themen anzupacken, die die digitale Transformation vorantreiben. Die AWV bietet die ideale Plattform, um alle Beteiligte an einen runden Tisch zu bringen. Wir versammeln alle Interessen, ohne dabei eine bestimmte Interessenvertretung darzustellen. Vielmehr bleiben wir in der Sache neutral, um Ergebnisse zu erzielen. Und unsere Arbeit zeigt, dass es sich lohnt, sich über einen gewissen Zeitraum hinweg für eine Sache zu bemühen, denn am Ende steht das konkrete Ergebnis. Und an den Ergebnissen unserer Arbeit wollen wir uns messen lassen.
Christoph Verenkotte: Ich bin mir sicher, dass die AWV mit ihren Themen sich sehr gut in die Realisierung des Koalitionsvertrags einbringen kann und dazu auch Gelegenheit bekommen wird. Neben den vielen Hinweisen aus der Facharbeit auf konkrete Desiderate der Wirtschaft oder notwendige Änderungen rufen die geplanten ex-ante und ex-post-Praxischecks für Gesetze und das geplante Bürokratieentlastungsgesetz BEG IV geradezu nach Einbindung der AWV. Im Übrigen ist der Passus aus dem Koalitionsvertrag – „Auch die Wirtschaft soll in der Verwaltung einen Verbündeten haben“ – quasi das Credo der AWV-Facharbeit, die – Werner Schmidt hat es ja schon mehrmals gesagt – sich nicht umsonst auch als neutrale Plattform zwischen Wirtschaft, Verwaltung und dem Dritten Sektor bezeichnet. Dabei geht es – wieder einmal – um die Praxisorientierung. Politische Ziele wollen umgesetzt werden. Programme schreiben ist einfacher als die Dinge praktisch auf die Straße zu bringen. Da kann die AWV mit den vielen überaus engagierten Praktikerinnen und Praktikern sehr gut helfen.
2026, also das Jahr, in dem die AWV 100 Jahre alt wird, ist nicht so weit entfernt. Die berühmte Schlussfrage: Wo sehen Sie die AWV in vier Jahren?
Werner Schmidt: Bei der Webkonferenz anlässlich des 95-jährigen Bestehens der AWV im September 2021 war es für mich beeindruckend zu sehen, mit welchem persönlichen Engagement sich die Beteiligten aus der Facharbeit eingebracht haben. Da war echte Euphorie zu spüren. Und man spürt in den einzelnen Gremien die starke Identifikation mit den fachlichen Themen. Mit diesem Selbstverständnis und diesem persönlichen Engagement in der Facharbeit mache ich mir um die nächsten hundert Jahre AWV keine Sorgen!
In vier Jahren sehe ich die AWV genauso lebendig wie heute. Ich hoffe, wir können den Weg, auf dem wir uns heute befinden, konsequent fortsetzen und bei der 100-Jahr-Feier auf weitere neue Leuchttürme, an denen wir beteiligt waren, zurückblicken. Dabei muss das Ergebnis im Vordergrund stehen und nicht die Rolle, die man dabei gespielt hat.
Christoph Verenkotte: Das sehe ich ähnlich. Auch ich wünsche mir, dass die AWV in den nächsten vier Jahren weiterhin eine zentrale Plattform für die verschiedenen Sektoren bietet, dass die AWV aus den Modernisierungsbestrebungen von Staat und Verwaltung nicht wegzudenken ist und ihre Neutralität weiterhin Expertinnen und Experten davon überzeugt, sich in unserem Netzwerk zu engagieren. Und, wenn ich mir die vielfältigen Aktivitäten der AWV-Fachgremien anschaue, bin ich mir ziemlich sicher, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird. Etwas Optimismus in diesen Zeiten schadet nichts.
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