- Interviews
Gremium nimmt Arbeit wieder auf: Know-how zur Integration wird angepasst
AWV-Doppelinterview mit Prof Dr. Ulrich Gartzke und Friedrich Ebner, Leiter der AWV-Projektgruppe 1.6.2
Die AWV-Projektgruppe 1.6.2 „Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten und Asylsuchenden“ hat vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ihre Arbeit im Frühjahr 2022 wieder aufgenommen. Das Gremium diskutiert, wie die Integration in der aktuellen Situation gelingen kann. Denn die Bemühungen zur Integration laufen auf Hochtouren und bergen, wie auch 2015, Chancen und Herausforderungen für den Arbeitsmarkt. Was die aktuelle Situation von der in den Jahren ab 2015 unterscheidet und welche Pläne mit dem Gremium verfolgt werden, berichten die beiden Leiter, Professor Dr. Ulrich Gartzke und Friedrich Ebner, im Doppelinterview.
Professor Gartzke, die Projektgruppe (PG) 1.6.2 „Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten und Asylsuchenden“ wurde in der Flüchtlingssituation 2015 ins Leben gerufen und von Ihnen und Herrn Ebner geleitet. Mit der Herausgabe des Handbuchs Arbeitsmarktintegration schien die Arbeit beendet, doch nun nehmen Sie die Tätigkeit wieder auf. Welchen Beitrag möchten Sie mit der PG zur derzeitigen Situation leisten?
Prof. Ulrich Gartzke: Natürlich möchten wir in erster Linie die Menschen, die vom Krieg betroffen sind, bei der Integration in Deutschland unterstützen. Dabei kann – ab einer gewissen Aufenthaltsdauer in Deutschland – die Aufnahme einer Ausbildung oder Tätigkeit einen Beitrag leisten. Dadurch fühlen sich Menschen gebraucht, lernen Kolleginnen und Kollegen kennen, erhalten eigenes Einkommen und werden unabhängiger von staatlicher Unterstützung.
Uns war schon 2018 klar, dass das Thema Arbeitsmarktintegration zu einem späteren Zeitpunkt wieder relevant werden könnte. Daher war uns die Sicherung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe so wichtig. Man kann auf den damaligen Erfahrungen aufbauen und dadurch schneller und passgenauer agieren. Als wir im Frühjahr die Situation der Menschen, die aus der Ukraine vor dem Krieg nach Deutschland flohen, wahrgenommen haben, wollten wir das Knowhow der PG aktualisieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Viele Integrationsmaßnahmen wurden über regionale Projekte initiiert, die mittlerweile ausgelaufen sind. Dieses Know-how sollte aber auch längerfristig und an anderen Orten verfügbar sein, damit „das Rad nicht immer neu erfunden werden muss“.
Herr Ebner, Mitte Juli fand bereits eine erste Webkonferenz der PG statt. Viele frühere Mitglieder sind wieder an Bord, aber es sind auch einige neue hinzugekommen. Welche beruflichen Hintergründe haben die Beteiligten? Welcher Mehrwert entsteht dadurch für die PG?
Friedrich Ebner: Die PG hat sich in der Zusammensetzung nicht wesentlich verändert. Das zeigt, dass gute und wertvolle Arbeit geleistet wurde und die Mitwirkenden auf dieser Basis und in dem Format die neuen Herausforderungen offen und vertrauensvoll ansprechen und diskutieren wollen. Die neuen Teilnehmenden aus Wirtschaft, Verbänden und gemeinnützigen Einrichtungen haben das Spektrum erweitert. Es zeigt sich, dass die Aspekte Integration von Frauen, schnellerer Spracherwerb, Vereinbarkeit von Integration, Beruf und Familie sowie die Integration von höher und hoch Qualifizierten stärker in den Blick genommen werden müssen.
Herr Gartzke, inwiefern unterscheiden sich die Herausforderungen einer Integration der aktuell zu uns kommenden Menschen von der Situation Geflüchteter in den Jahren ab 2015?
Prof. Ulrich Gartzke: Die aktuell aus der Ukraine kommenden Erwachsenen sind zu ca. 75 % weiblich. Viele von ihnen haben eine qualifizierte Berufsausbildung. Sie sind für Berufsfelder auf dem deutschen Arbeitsmarkt eher vorqualifiziert. Allerdings ist bei vielen Personen nicht klar, wie lange sie in Deutschland bleiben möchten. Daher sind viele noch nicht bereit, sich auf längerfristige Qualifizierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel eine Weiterbildung, einzulassen. Oftmals sind die Geflüchteten mit ihren Kindern gekommen, so dass auch die Kinderbetreuung mitgedacht werden muss – ebenso wie die Themen Spracherwerb, Wohnungssuche und Integration in die Gesellschaft, die natürlich auch für die Menschen aus der Ukraine sehr relevant sind und bei der Arbeitsmarktintegration stets berücksichtigt werden müssen.
Herr Ebner, welche thematischen Schwerpunkte können Sie aus diesen Unterschieden für die zukünftige Arbeit der Projektgruppe ableiten?
Friedrich Ebner: Es wurde in Vorträgen und Vorstellungen von Projekten deutlich, dass einerseits die Probleme aus den Jahren 2015 bis 2019 an manchen Stellen noch nicht gänzlich abgearbeitet wurden. Andererseits zeichnete sich ab, dass die Erweiterung des Spektrums neue Herausforderungen mit sich bringt und vor allem der Faktor Zeit eine große Rolle spielt. Zeitpuffer durch Asylverfahren fallen weg, die notwendigen Maßnahmen müssen schnell greifen. Bei den seit März 2022 aus der Ukraine kommenden Personen sind die Ziele und Perspektiven in den meisten Fällen kurz- und mittelfristig ausgerichtet. Das bedeutet für die Arbeitsmarktintegration: schnelle, flexible Prozesse in Verwaltung und Behörden, schnelle Bereitstellung ausreichender Sprachschulungen, schnelle Feststellung der Qualifikationen, keine größeren Umwege über Praktika und Probezeiten. Auch wenn das Ankommen und das Verarbeiten von Kriegs- und Fluchterfahrungen Zeit braucht, so sind flexible, unkomplizierte und digitale Möglichkeiten einer schnellen Integration zu schaffen. Das ist eine große Herausforderung an Jobcenter, an Kammerorganisationen, an die Betriebe. Daneben geht es um damit verbundene „Randthemen“: Kinderbetreuung, Schule, Wohnung, Alltagsfragen. Das ist alles nicht neu, aber durch die Sozialstruktur und das Bildungsniveau der Geflüchteten sind die Ansprüche andere als 2015/16. Wir wissen, dass die Bedingungen und auch die „Ränder“ stimmen müssen, damit eine schnelle Integration in Arbeit und Gesellschaft gelingen kann. Für die PG ist daher eine Vertiefung und stärkere Fokussierung auf bestimmte Themen notwendig.
Wo sehen Sie beide die Stärken des Arbeitskreises und welche Themen möchten Sie vorantreiben? Ist vielleicht auch eine neue Publikation denkbar?
Prof. Ulrich Gartzke: Wichtig ist uns, dass sich die Verantwortlichen aus den verschiedenen Bereichen wie Verwaltung, Politik, Unternehmen, Kammern, NPOs, etc. austauschen können. Durch die verschiedenen Perspektiven und Bedürfnisse können dann ganzheitliche und bürokratiearme Lösungen zu Gunsten der Arbeitsmarktakteure geschaffen werden. Zudem werden neue Ideen entwickelt und Kontakte vermittelt. Insbesondere Good-Practice-Beispiele sollen vorgestellt und weitervermittelt werden.
Natürlich ist die Projektgruppe auch immer offen für neue Mitwirkende. Das schafft zusätzliche Impulse und Vernetzungsmöglichkeiten. Kurzfristig ist der aktuelle Austausch sicherlich der Fokus der Projektgruppe. Darüber hinaus ist uns die Sicherung des aufgebauten Know-hows stets ein Anliegen, sodass eine Publikation sicherlich denkbar wäre.
Friedrich Ebner: Die PG hat sich auch in der neuen Zusammensetzung als eine Plattform für den Austausch auf Augenhöhe bewährt. Ob Bundeskanzleramt oder Verein, jeder kann seinen Beitrag zur Problemlösung einbringen. Jeder wird gehört. Die besondere Stärke der PG ist die Offenheit und die Vertraulichkeit. Fehler und Fehleinschätzungen können angesprochen werden und sind ebenso wertvoll wie ein in jeder Hinsicht gelungenes Projekt. Die Möglichkeit des informellen Austausches über alle Ebenen hinweg ist eine weitere Stärke und ein Schwerpunkt unseres Formats. Die PG kann durch ihre breit aufgestellte Zusammensetzung schnell auf Themen reagieren. Es wird in nächster Zukunft neue Herausforderungen geben. Es wird auch um die Vertiefung der bereits behandelten Themen gehen. Ich bin sicher, dass die PG in dieser Form und Zusammensetzung ihren Beitrag zur Arbeitsmarktintegration weiter leisten kann.
Ob eine neue Publikation entstehen soll oder wird, werden die Mitglieder der PG entscheiden. Sie sind diejenigen, die die Beiträge leisten müssen.
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